Montag, 18. August 2014

Dent d'Hérens (4171m), W-Grat ab Tiefmattenjoch

Vielleicht habe ich heute Nacht 14 Menschen vor dem Ersticken gerettet. Ich schrecke plötzlich auf und japse nach Luft in der verzweifelten Hoffnung, noch ein oder zwei Sauerstoffteilchen zu erwischen. Einmal mehr hat niemand das Fenster geöffnet, und so hole ich das, verbunden mit dem Gang zur Toilette, nach. Leider fällt es mir nun schwer, wieder einzuschlafen, was auch mit dem erhöhten Puls zusammenhängen mag.

Morgens um 3:30 kurz vor dem Aufbruch
Irgendwann zupft mich etwas am Arm - meiner Meinung nach gerade, als ich wieder im Land der Träume bin - und J.O. meint, es sei nun kurz vor 3:00 Uhr. Also ist der Nacht nun für uns zu Ende, und kurz darauf sind wir im Gastraum, um ein typisch schlechtes italienisches Frühstück zu uns zu nehmen.

Wir bringen das in 30 Minuten hinter uns. Mit uns sind noch ca. 10 weitere Gäste im Raum, und wie immer herrscht eine ziemliche Geschäftigkeit. Auch wir machen uns rasch für den Aufbruch bereit und starten - einmal nicht als Letzte - um 3:38 Uhr.

Der Himmel ist nicht wolkenlos, aber es scheint sich nur um ein paar Nebelfelder zu handeln. Im Licht unserer Stirnlampen und den anderen folgend gehen wir zunächst wieder ein Stück den Hüttenweg zurück, um den First einer Moräne zu erreichen. Diesem folgen wir dann für eine Stunde, bis wir den Glacier des Grandes Murailles in ca. 3000m Höhe erreichen.

Hier legen wir Steigeisen und - im Gegensatz zu den anderen Gruppen - auch das Seil an. Ich bin ein wenig erstaunt, dass die anderen den Gletscher seilfrei gehen. Nach einem kurzen flachen Anstieg folgt ein erster steiler Aufschwung am linken Rand eines Eisbruchs. Der Firn ist aufgrund der kalten Nacht sehr gut und wird es auch für die gesamte Dauer der Tour bleiben. Leider beginnt die Flüssigkeit in meinem Trinkschlauch sich ebenfalls in Eis zu verwandeln, so dass ich bald kaum noch etwas hindurchsaugen kann. Bei J.O. sieht es noch etwas besser aus, und so darf ich mich dort bedienen.

Am Beginn des Grates, vom Tiefmattenjoch aus gesehen
Um kurz vor 6:00 Uhr erreichen wir den Fuß des Tiefmattenjochs. Dort hinauf zieht eine übel aussehende steile Rinne. Sie lässt sich dann auch genauso übel gehen wie sie aussieht und wäre vermutlich kaum passierbar, wenn sie nicht durch Stahlketten und dicke Taue entschärft wäre. Als wir das Joch in 3565m Höhe erreichen, bekommen wir den schon vorher unangenehm kalten Wind nun voll zu spüren. Wir haben schon vorher die winddichten Softshells und die dicken Handschuhe angezogen, werden aber trotzdem und trotz der Anstrengung nicht mehr richtig warm.

Erste Sonnenstrahlen über Grand Combin und Mont Blanc
Inzwischen ist es hell geworden, und von nun an genießen wir die eindrucksvollen Tiefblicke nach Norden auf die Schweizer Seite des Berges. Eindrucksvoll ist auch die Kletterei über den felsigen Teil des W-Grates. Er ist stellenweise sehr schmal und weist Kletterstellen im III. Grad auf. Und auch hier liegt mehr Schnee als gewöhnlich. Allerdings ist der gut verfestigt und stört nicht sehr, da wir sowieso alles mit Steigeisen klettern.

Wir gehen noch ohne Seil, das wir unterhalb des Joches wieder eingesteckt haben - genau genommen liegt es in J.O.'s Rucksack. So kommen wir zügig voran, wofür wir allerdings den Preis der ein oder anderen etwas heiklen Stelle bezahlen. Wir sind noch knapp hinter einer französischen Dreierseilschaft, die wir gegen Ende des Felsgrates überholen und der wir bis kurz vor unserem Auto immer wieder begegnen werden!

Am Ende des Felsgrates
Es folgt nun ein Firngrat und dann der obere Teil der Westflanke. Von hier sieht es so aus, als müssten wir gleich oben sein, dabei liegen noch fast 500 Höhenmeter vor uns! Und so kämpfen wir uns eine ganze Weile gegen die dünne Luft und den eiskalten Wind die immer steiler werdende Flanke hinauf.

In der steilen Gipfelflanke
Schließlich geht es sehr steil zum obersten NW-Grat hinauf. Hier befinden sich sogar ein paar Sicherungsstangen im Fels, die wohl bei "normalen" Verhältnissen den Aufstieg über splittrige glatten Platten sichern. Heute ist von diesen Felsen allerdings nichts zu sehen.


Am NW-Grat angekommen, erreicht uns endlich auch die Sonne. Leider hat sie keine Chance, uns etwas aufzuwärmen, da uns gleichzeitig der Wind nun mit voller Kraft erwischt. Der kurze Grat zum Hauptgipfel ist dabei so schmal, dass wir nun wieder das Seil herausholen und voll konzentriert die felsdurchsetzte Gratschneide passieren.



Es ist 09:05 Uhr, als wir auf dem Gipfel des Dent d'Hérens stehen. Die Aussicht ist überwältigend, besonders auf das direkt östlich angrenzende und tief verschneite Matterhorn. Außer uns ist noch ein italienisches Paar hier oben, und so bekommen wir sogar ein Gipfelfoto von uns beiden auf dem sehr kleinen höchsten Punkt.

Höher geht es nicht mehr!

Matterhorn mit Mischabelgruppe links und Monte Rosa rechts
Wir bleiben nur kurz, da wir vor Kälte beginnen zu zittern. Nicht einmal eine kleine Stärkung gönnen wir uns hier. Der Abstieg führt bis auf eine Höhe von 3800m entlang des Aufstiegs, also den größten Teil der Gipfelflanke wieder hinunter. Dann biegen wir in die Südflanke ab, über die der Normalweg führt. Diese Flanke ist im oberen Teil ebenfalls ziemlich steil und zur Zeit durchgehend mit gut tragendem Schnee bedeckt. Das ist in "normalen" Sommern wohl inzwischen anders und nicht gerade besser. Wir kommen jedenfalls gut voran, auch wenn wir natürlich weiterhin sehr konzentriert absteigen müssen.

Aufstieg links über den Felsgrat, Abstieg rechts über die Schneeflanke
Schließlich wir die Neigung geringer und der Weiterweg einfacher. Wir genießen die nunmehr intensive Sonne und tauen langsam auf. Am Ende des Gletschers angekommen, gönnen wir uns dann auch endlich noch eine etwas längere Pause. Um kurz vor 13:00 Uhr sind wir wieder an der Hütte, wo wir uns mit einer Tafel Schokolade und einem Käseteller für den langen Rückweg zum Auto stärken.

Bereit (?) für den Abstieg

Um 13:45 Uhr verlassen wir die Hütte. Den ersten steilen Moränenhang bringen wir rasch hinter uns, doch bald schon merken wir, dass wir bereits seit 3:00 Uhr auf den Beinen sind. Selbige werden zunehmend schwerer, und der Weg erscheint uns noch deutlich länger als er uns gestern schon vorkam. Es folgt das beliebte gegenseitige Aufzählen der Körperteile, die nun schmerzen. Was die beweglichen Teile angeht, wäre es vielleicht einfacher, diejenigen zu nennen, die nicht schmerzen.

Kurz vor Erreichen der Staumauer und damit dem Ende unseres langen Fußwegs bitte ich ein älteres italienisches Paar, von uns ein Foto mit "unserem" Berg im Hintergrund zu machen. Ob es an meinem Italienisch, unserem gepflegten Äußeren oder dem von uns ausgehenden Wohlgeruch liegt, dass meine Bitte zunächst nicht auf Begeisterung stößt, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls wird die Bitte erfüllt.

Die Besteiger mit dem Bestiegenen links hinten
Um 17:45 Uhr erreichen wir unser Auto. Nun liegt noch die viereinhalbstündige Rückfahrt vor uns. Wir wechseln uns beim Fahren ab und kommen zwar total müde aber zufrieden um 22:30 Uhr wieder an unserer Unterkunft an. Nach einem schnell zubereiteten Nudelgericht fallen wir in die Betten.


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